Content Marketing im Sport: Vertikal in die Tiefe
Die vergangenen Monate waren keine für den Sportjournalismus. Obwohl in ganz Europa die Topstars in leeren oder halbvollen Stadien nach Fußbällen hetzen dürfen und die nordamerikanischen Profiligen NHL und NBA ihre ohnehin spektakulären Play-offs als epische Turniere austragen; es wieder etwas zu berichten gibt für Reporter und Analysten.
Doch manche können genau das nicht mehr tun: Analysen und Reportagen schreiben. Beim "The Athletic", einem der innovativsten Medienprojekte der Welt, wurden im Juni acht Prozent der Mitarbeiter entlassen. 46 Autoren verloren ihre Jobs. Wenn sogar die Klassenbesten in der Branche leiden, wie geht es denn den anderen, weniger innovativen Akteuren im Markt?
Das Netflix des Sportjournalismus
"The Athletic" musste diese Kündigungen durchsetzen, um zu überleben. Vor Monaten wäre es undenkbar gewesen, so einen Satz zu schreiben. "The Athletic" ging es gut, die Umsätze sprudelten wie die Geysire in den geschwungenen Landschaften Islands. Die Anzahl der Subscriber stieg rasch und konstant, etwa 600.000 Abonnenten waren es im vergangenen November. Der Unternehmenswert schwankte je nach Schätzung zwischen 500 Millionen und 5 Milliarden Dollar. "The Athletic" machte vieles besser als die arrivierten Medien, und die Erfolge bestätigten das Konzept der Macher.
Das Geschäftsmodell des langjährigen Senkrechtstarters ist rasch erläutert: "The Athletic" konsumieren die Leser online auf der Website oder in einer App, sie können ein bewährtes Abonnement-Modell nutzen. Die Website ist das Netflix oder Amazon Prime für Sportjournalismus. 60 Dollar im Jahr, fünf pro Monat. Das klingt nach wenig. Aber es gibt viele Sportfans in der Welt. Dazu kreierten die Sales-Experten des Unternehmens ein schlaues und auf eine sportive Zielgruppe zugeschnittenes Vermarktungskonzept für Werbekunden. Aus diesem resultierte ein ergiebiges Anzeigengeschäft.
Vertikales Erfolgsrezept
Während hierzulande führende Sportmedien die Leser horizontal gewinnen wollen, zielt "The Athletic” nicht primär auf alle Fans einer Sportart oder auf die einer Liga, sondern vertikal auf die Anhänger einer Mannschaft oder auf die Sportfans einer Stadt. "The Athletic" betreibt, wenn man es so sagen möchte, alleine in der Footballliga NFL 32 individuelle Magazine. Zu beinahe jedem Team sind mehrere Reporter abgestellt, exzellente, kreative Schreiber. Pro Tag gibt es für jede Mannschaft mehrmals aktuelle Informationen und hochwertige Texte. Individuelle Team-News, Analysen und aufbereitete Statistiken (Advanced Stats) werden durch ligaweiten Content, zum Beispiel sogenannte Power- oder Player-Rankings ergänzt. Die Chefredaktion kuratiert die Teaminhalte zusätzlich zu einem übergeordneten Liga-Angebot.
Wer "The Athletic" abonniert, seine Lieblingsmannschaft auswählt, bekommt pro Monat über 60 Artikel mit direktem Bezug zu seinem Team. Exklusive und hochwertige Beiträge. Fans, die quer durchs Land reisen zu den Spielen, Hunderte Dollar für Jahreskarten oder Trikots ausgeben, haben monatlich ein paar Bucks übrig für den täglichen Informationsvorsprung gegenüber anderen Fans.
Das deutsche Angebot: bedingt konkurrenzfähig
Die Angebote von deutschen Leitmedien wie dem "kicker" können damit kaum konkurrieren. Das Angebot aus Sicht der Fans: vielleicht zwei, mit etwas Glück vier Seiten in der Printausgabe über die Lieblingsmannschaft, online vor allem viel Masse. Viele Storys, besonders die hervorragend recherchierten, exklusiven Stücke werden bereits Stunden später von der Konkurrenz kannibalisiert, sogar vom biblischten aller "Onlinemedien" abgekupfert, dem Videotext. Auch die teilweise exzellente Team-Coverage von Lokalzeitungen gibt es meistens nur im Komplett-Abo des jeweiligen Blattes und schon gar nicht auf den Sportfan und seine Bedürfnisse zugeschnitten.
Könnte der deutsche Medienmarkt ein Modell wie "The Athletic" gebären, zumindest für den Profifußball? Das erscheint fraglich. Zwar haben sich auch die ewig skeptischen Deutschen durch Musik- und Videostreamingdienste sowie digitale Shoppingtouren an Online-Bezahlmöglichkeiten und Abomodelle gewöhnt, doch fehlen Big Player, die so eine Plattform denken und finanzieren können. Zudem schränken die Sportvereine, um die es geht, die Berichterstattung immer häufiger ein. Die vereinseigenen Medien kreieren mittlerweile ihre Top-Storys selbst und verbreiten sie auf ihren Kanälen. Dem Reporter vor Ort bleibt immer häufiger nur die Rolle des Zuschauers oder Zweitverwerters. Exklusivität war gestern.
Nicht die Medien, sondern die Vereine müssen zupacken
Es sind vielmehr die Vereine, die theoretisch eine Chance hätten, das Geschäftsmodell von "The Athletic" zu adaptieren. Die Klubs haben das, was Sportjournalisten immer häufiger fehlt: Zugriff zu den Spielern, den Geschichten, dem Drumherum. Organisationen könnten aus den bestehenden News-Kanälen und "TV-Sendern" Content Hubs für ihre Fans bauen und diese trotz der fehlenden journalistischen Authentizität für Anhänger attraktiv machen. Sofern sie Storytelling und Exklusivität zu einem gehaltvollen Mix verschmelzen. Das kann durch Podcasts mit dem Trainer, intimes Kabinenmaterial, Spielerporträts oder Spielanalysen mit Insiderwissen gelingen. Sogar manche Fußball-Drittligisten erreichten alleine durch Social-Media-Posts mit Startaufstellungen oder der Verkündigung von Spielertransfers Reichweiten mit vierstelligen Werbewerten. Pro Beitrag.
In den USA ist es längst üblich, dass Sportteams ihre eigenen Beatwriter beschäftigen. Das sind Journalistinnen und Redakteure, die Content aus dem Umfeld der Mannschaft produzieren, diese begleiten, Debatten über die sportliche Entwicklung initiieren und auffangen können. Diese "Vereinsreporter" schreiben mit journalistischer Färbung, es wird mit modernen Formaten und Themen experimentiert. Teilweise ist der "Team-Content" von journalistischen Beiträgen kaum zu unterscheiden.
US-Teams investieren vordergründig aus drei Gründen in diese Bereiche:
- Sie können die Aufmerksamkeit und Emotionen der Fans lenken.
- Für Sponsoren und Werbepartner eine attraktive Werbeumgebung erschaffen.
- Sie erzeugen über vereinseigene Inhalte in innovativen Formaten (beispielsweise sogenannte mic'd-ups, bei denen Spieler oder Trainer während des Spiels mit einem Mikrofon verkabelt sind) ein hohes Maß an Loyalität (Fanbindung).
Auch in Deutschland würden Content Hubs diese drei Zielvorgaben für Vereine erfüllen. Durch die besondere Struktur im deutschen Sport, in dem Vereinsgebilde trotz diverser Investorenfantasien immer noch überwiegen, lauert in den eigenen Inhalten noch eine viel größere finanzielle Chance: Neue Mitglieder gewinnen oder bisherige Unterstützer intensiver an den Klub binden.
Die Corona-Krise zeigte einschneidend, wie wichtig diese häufig unterschätzten Einnahmen durch Mitglieder sein können. Besonders für verhältnismäßige klamme Vereine mit großem Fan- und Zuschauerpotenzial, also traditionelle Fußballmannschaften (2. bis 4. Liga), dazu Spitzenteams aus Randsportarten wie Handball, Volleyball, Basketball oder Eishockey sind diese Erträge im Tagesgeschäft relevant.
Mitglieder-Einnahmen sind krisensicher
Während Sponsoreneinkünfte in und nach Krisenzeiten als instabil gelten, die Zuflüsse durch das Ticketing vielerorts vom nicht planbaren sportlichen Erfolg abhängen, sind Umsätze durch Mitglieder eine verlässliche und selten versiegende Quelle. Wenn Vereine gut kommunizieren und sich keine Skandale leisten, verebbt der monetäre Zufluss erst mit dem Ableben eines Getreuen. Nur müssen Sportorganisationen den Fans mehr anbieten, damit diese überhaupt Mitglied werden.
Die Potenziale in der Mitgliedergewinnung sind längst nicht in allen Sportarten und Ligen ausgeschöpft. Bisher erhalten Fans für die Mitgliedschaft in einem Verein eher emotionale Werte. Es gibt ein Stimmrecht bei Versammlungen, dazu ein paar exklusive Mitgliederinformationen, wohl am wichtigsten ist das Gefühl, als Mitglied Teil eines Vereins, einer größeren Sache zu sein. Ansonsten locken Vorteile wie Sonderrechte beim Ticketkauf oder besondere Konditionen für Merchandiseprodukte. Doch im Content-Bereich denken die meisten professionellen Fußballvereine defensiv, es wird sich wenig zugetraut. Perspektiven und Chancen wurden bisher nur von wenigen Klubs kartografiert. Lieber wird für einen Euro das Spieltagsheft vertickt. Blöd, wenn niemand im Stadion ist.
Ein Kundenbindungsprogramm für Sportvereine
Vereine könnten besagte Content Hubs nach dem Modell von "The Athletic" leicht mit dem Mitgliederwesen verzahnen. Wer Mitglied ist oder wird, erhält automatisch Zugang zu allen exklusiven Inhalten. Die Mitgliedschaft in einem Verein gewinnt an Lukrativität. Während diese zusätzliche Kommerzialisierung Argwohn bei Traditionalisten wecken könnte, überwiegen auch für Fans die Chancen. So könnten in einem Hub für Vereinsmitglieder die Mitbestimmungs- und Teilhaberechte von Anhängern gestärkt werden. Möglicherweise durch bindende Umfragen zu Themen wie dem Stadion-Catering, der Stadion-Playlist oder dem Design der neuen Trikot-Kollektionen.
Gleichzeitig erfassen die Vereine ihre Zielgruppe und ihre Angewohnheiten in so einem Hub deutlich genauer. Werbepotenziale für Sponsoren und Partner gewinnen an Attraktivität, besonders wichtig, da die bewährten Werbeoberflächen in Stadien im digitalen Zeitalter an Zugkraft verlieren sollten.
Zudem kann der Verein auf seinem "Owned Channel" zielgenau Werbemittel für Tickets oder Merchandise-Produkte einsetzen. Die Margenverluste, die bei Kampagnen in den sozialen Netzwerken nervende Begleiterscheinung sind, würden reduziert. Wer Mitglied in einem Verein ist, sozusagen ein Aktionär ohne Dividenden-Interesse, kann mit den Hebeln eines Kunden-Loyalitäts-Programms von regelmäßigeren Stadionbesuchen und Trikotkäufen überzeugt werden. Dass sich Loyalität lohnt, zeigen bewährte Best Practices und diverse Studien. Wer die Retention nur um fünf Prozent steigert, kann mit steigenden Sales von über 25 Prozent rechnen.
Viele Gewinner
Für den Sportjournalismus wären professionelle Content Hubs der Vereine zwar keine erquicklichen Nachrichten, aber immerhin für die besten Schreiber der Branche könnten interessante neue Aufgaben entstehen. Sie sollte man in Zukunft häufiger auf der Vereinsseite sehen.
Ansonsten überwiegt die Anzahl der Gewinner. Vereine könnten noch offensiver Spieler-Brandings schärfen, Fans anschaulich informieren und binden, das Interesse an einer Mannschaft und ihrer Charaktere stärken, finanzielle Ressourcen ausschöpfen und neue Werbepakete für Sponsoren entwickeln. Fans und Mitglieder profitieren, wenn die Inhalte zu ihren Helden unterhaltsamer und informativer werden. Das ist etwas, was schrumpfende Redaktionen nicht leisten können. Die sehr oft undurchsichtige Content-Schwulst, die Vereine längst auf allen Kanälen produzieren, wäre an einem Ort gebündelt.
Und vielleicht gewinnt die Mannschaft dank Spielertransfers, die Einnahmen durch Vereinsmitglieder möglich machen, ein paar Spiele mehr. Alleine der leidliche Blick auf die Tabelle der Bundesliga zeigt seit beinahe einem Jahrzehnt, dass Geld wohl leider doch Tore schießt.
Du bist Marketer aus dem Profisport und möchtest über Content sprechen? Maile unserem Autor: Hannes Hilbrecht hat als Sportjournalist bereits für ZEIT.de, 11Freunde, Tagesspiegel und NDR.de gearbeitet und gestaltet gemeinsam mit seinen Kollegen von MANDARIN MEDIEN seit drei Jahren erfolgreiche Content-Marketing-Projekte.
Neuen Kommentar schreiben